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Rafaela Weinz, Evensong - Historische Konfigurationen einer liturgischen Form

1. Einleitung

In der Musikwissenschaft wird eine Geschichtsschreibung praktiziert, die seit jeher Probleme aufwirft. Sie betrachtet die Geschichte der Musik als eigenständige Entwicklung, die aus sich selbst entsteht und sich selbst erhält. Auch wenn man sich darüber einig ist, dass dieses Modell nicht der Wirklichkeit entsprechen kann, da die Musik in ein kulturelles und dieses in ein gesellschaftliches System eingebunden ist, wird diesen Wechselwirkungen der einzelnen Bereiche gesellschaftlichen Lebens zu selten Beachtung geschenkt. Eine solche Sichtweise wird auch auf die Musik fremder Kulturen übertragen, wodurch diese kaum mehr verständlich dargestellt werden kann, da der kulturelle Hintergrund, der im Bereich der europäischen Musikgeschichte weitestgehend präsent ist, für diese Kulturräume fehlt. So wird in Büchern der Musikgeschichte meist nur die Geschichte der europäischen Musik dargestellt, obwohl der Titel allzu häufig eine Gesamtdarstellung der Geschichte der Musik verspricht. Nun darf diese Kritik nicht nur an die Musikwissenschaft herangetragen werden, auch in der Geschichtswissenschaft allgemein sind diese Tendenzen bekannt, ebenso wie in der Kirchengeschichte, die sich meist auf den westeuropäisch-christlichen Glauben, namentlich auf die Tradition der katholischen und protestantischen Kirche und deren Geschichte beschränkt. Die Frage, weshalb sich die europäische Musikwissenschaft zum Beispiel nicht an die Musik Asiens und deren Entwicklung traut, wird mit dem Umfang einer solchen Beschreibung zusammenhängen, die neben der Geschichte der Musik auch die Geschichte des Kontinents, des Landes und dessen Kultur und Gesellschaftsstrukturen einschließen müsste.

Beschränkt man sich aus diesen Gründen auf die westeuropäische Musikgeschichte, so sollte man annehmen dürfen, dass diese in den Standardwerken umfassend beschrieben ist. Doch auch hier tritt wieder ein Selektionsmechanismus in Kraft, der Bereiche musikalischer Aktivität beschreibt und damit andere Bereiche ausschließt. Einer dieser Selektionsmechanismen wäre die Unterscheidung von so genannter E- und U-Musik, die jedoch eine Grenze markiert, die so gar nicht gesetzt werden kann und damit Werke, die genau in diesen Grenzbereich fallen, von einer Beobachtung ausschließt. Die Liste solcher Selektionsmechanismen lässt sich beliebig erweitern, wodurch sich immer mehr Bereiche der Beschreibung entziehen und unerwähnt bleiben. So wird in der Musikgeschichte neben der Unterscheidung von Kirchenmusik und weltlicher Musik auch innerhalb der Kirchenmusik noch einmal zwischen evangelischen und katholischer Kirchenmusik unterscheiden. Jedoch kann die christliche Kirche nicht nur in diese zwei größten Konfessionen unterteilt werden, allein in Deutschland ergibt die Aufzählung der Glaubensgemeinschaften für das Jahr 2005 eine beeindruckende Liste (vgl. [REMID]). Weltweit betrachtet lässt sich diese Unterscheidung noch weniger rechtfertigen, da die protestantische Kirche zwar in Deutschland eine starke, weltweit jedoch geringere Verbreitung erfahren hat. Nach der römisch-katholischen Kirche, welche die stärkste christliche Konfession weltweit ist, steht die orthodoxe Kirche auf Platz zwei und danach mit 75 Millionen Gläubigen die anglikanische Kirchengemeinschaft (vgl. [wikipedia: Anglikanische Kirche]). Die Kirchenmusik dieser ursprünglich ebenfalls westeuropäischen Konfession ist außerhalb des Mutterlands England jedoch weitestgehend unbekannt. Gerade die Musik der anglikanischen Kirche ist jedoch in ihrer Ausprägung einmalig und für die Musikwissenschaft daher in besonderem Maße interessant. Es hat sich in England bis heute eine Art der Liturgie erhalten, die im restlichen Europa schon früh verebbte und heute in dieser Form kaum mehr zu finden ist: „The choral services, as rendered daily in the English cathedrals, are unique in the world of modern music; nothing quite like them exists on the continent of Europe.“ ([Fellowes 1941], S. 2) Diese Tagesgebetszeiten sind in Form und Funktion den monastischen Stundengebeten der katholischen Kirche ähnlich, werden aber in England mit einer ausgeprägteren musikalischen Gestaltung präsentiert. Eine solche Kopplung von musikalischen und liturgischen Elementen ist für die Liturgie des Stundengebets einmalig.

Diese Arbeit soll eine selektive Beschreibung der Konfigurationen der liturgischen Form des so genannten Evensong versuchen, indem sie nicht nur dessen musikalische Entwicklung beschreibt, sondern auch die dahinter stehenden kulturellen, gesellschaftlichen und kirchengeschichtlichen Entwicklungen mit einbezieht. Die Beschreibung soll systemischen Charakter annehmen, indem sie die verschiedenen äußeren Einflüsse der Gesellschaft auf die Entwicklung von Kirchenmusik aufzeigt, dies jedoch nicht als einzig folgerichtige Entstehung begreift. Es kann keine allgemeine Gültigkeit der beschriebenen Entwicklungen gewährleistet werden, da in der Beobachtung von geschichtlichen Entwicklungen immer wieder eine Unterscheidung getroffen werden muss, in der ein Bereich der Geschichte von der Beobachtung ausdifferenziert wird1. Diese Darstellung kann daher nur Konstellationen beschreiben, die irritierend auf die Entwicklung der anglikanischen Kirchenmusik eingewirkt haben und so auch als Teil der Musikgeschichte zu begreifen sind.

Die kontextuelle Einordnung in die Geschichte der Gesellschaft beginnt mit der Suche nach dem Ursprung des Evensong in den Liturgien der christlichen Kirchen, bevor es um die Reformation in England geht, aus der sich im 16. Jahrhundert die Liturgie des Evensong formiert. Nach einer Beschreibung der musikalischen Formen des Evensong im 16. Jahrhundert soll die weitere Entwicklung der Kirchenmusik im England des 17. bis 19. Jahrhunderts beschrieben werden, die zu einem abschließenden Kapitel überleitet, in dem die Situation des Evensong heute und dessen Ausbreitung über die Grenzen Englands hinaus am Beispiel Köln formuliert werden soll.


1Gemeint ist hier die systemische Beobachtung nach Luhmann, der sich an die Theorie George Spencer-Browns (Laws of Form) anlehnt, in der durch die Beschreibung einer Differenz der Unterschied zwischen dem Beobachteten und dem „unmarked space“ geschaffen wird (vgl. Dirk Becker (Hrsg.): Niklas Luhmann. Einführung in die Systemtheorie, Heidelberg 2002, S. 66 ff.).